Das allerletzte Märchen

Es war einmal ein riesiges Land, das sich ‚Robustischer Staatenbund’ nannte. Vor mehr als dreißig Jahren brach ein kleiner Brocken von diesem Staat ab und blieb - ein gutes Stück östlich von Eutopia - einfach liegen. Man nannte ihn ‚Ukanien’, setzte eine Regierung ein und überließ das Land erst einmal sich selbst, denn es hatte keine besondere Bedeutung.

Während sich die Menschen in Ukanien sorgten, wie es denn nun mit ihnen weitergehen solle, hatten ein paar clevere Geschäftsleute eine großartige Idee: Sie steckten lange die Köpfe zusammen und beschlossen dann, dieses Niemandsland auszuplündern. Die Zeit war günstig, alles war möglich. Sie wurden reicher und reicher, weil sie alles an sich rissen, was man in diesem neuen Staat unter seine Herrschaft bringen konnte, vom Schiffsbau bis zu Süßwaren, vom Bankwesen bis zur Energieerzeugung. Schließlich hatten sie alle profitablen Bereiche im Griff. - Man nannte diese Leute später 'Poligarchen', fühlte sich geehrt durch ihre Bekanntschaft, hofierte sie und hoffte auf eine Portion materiellen Abglanz für das eigene Leben. Das gemeine Volk tat ihnen nach, raffte, was ging und pfiff auf das Gemeinwohl.

Auch im Ausland betrachtete man die Poligarchen als vornehme Herren mit unermesslichem Reichtum, obwohl sie eigentlich nur elende Schurken waren.

In den nächsten drei Jahrzehnten lösten sich im chaotischen Ukanien mehr als zwanzig Regierungen ab. Manche Regierungsmitglieder waren bereits Poligarchen oder wurden dazu, weil sie nun plötzlich viel zu sagen hatten und weil man sich natürlich half und sich nicht gegenseitig in die Suppe spuckte.

Und sie wurden weiterhin reicher und reicher und reicher…

Eines Tages fiel den Poligarchen etwas auf. Sie steckten wieder die Köpfe zusammen, viel länger als beim ersten Mal, und der Oberpoligarch sprach aus, was alle dachten: „Brüder! Nun haben wir alles unter uns verteilt, was da war. Selbst vom Brutto- Inlandsprodukt fließt ein ganzes Drittel in unsere Korruptionswirtschaft - noch mehr würde uns selbst gefährden, denn irgendwann werden…“ er lachte hämisch, „…selbst die allereinfältigsten Bürger merken, dass wir den Staat aussaugen! - Für uns ist soweit alles geregelt. Aber,“ fuhr er fort, „wo bleibt das Große Ganze? Wer sind wir denn, international? Als Staat werden wir Ukanier von der Welt kaum wahrgenommen. So darf das nicht bleiben!“

Es traf sich günstig, dass durch Ukanien eine lange, wichtige Brennluftleitung aus Robustia führte, die vor allem Eutopia mit wichtiger Brennluft versorgte. Die Rohrleitung stammte noch aus der Zeit des ‚Robustischen Staatenbunds’. Ukanien verdiente gut daran, weil es für die Durchleitung Geld bekam. Einen Teil der durchgeleiteten Brennluft verbrauchten allerdings auch die Menschen und vor allem die Fabriken von Ukanien. Diesen Verbrauch sollten sie natürlich auch bezahlen.

Die Ukanier zettelten nun einen ziemlich künstlichen Streit um genau diese Brennluftleitung an. Ukanien erklärte immer wieder, es habe zur Bezahlung viel Geld an Robustia überwiesen, dann wieder behauptete Robustia, es sei nichts angekommen, nein, Ukanien habe seine Brennluft nicht bezahlt und man werde die Brennluft für Ukanien sperren. Schließlich drohte Ukanien sogar, es werde die Leitung Richtung Eutopia vollständig blockieren. Der ganze lächerliche Ärger wogte fast ein Jahrzehnt lang hin und her. Die Ukanier hatten Freude daran, alles am Kochen zu halten und schlossen natürlich keine Verträge mit Robustia ab, weil diese den Streit beendet hätten. Nein, so dumm waren sie nicht. Obwohl es zuging wie bei Kleinkindern in einem Sandkasten fühlte sich Ukanien plötzlich wichtig. Und so war es doch: Eutopia, ja die ganze westliche Welt blickte auf Ukanien!

Die Poligarchen lernten viel dazu in dieser Zeit. Sie sahen, wie einfach es war, Eutopia in eine Verantwortung zu locken, die es gar nicht hatte, und wie wenig konsequent Eutopia seine eigenen Interessen vertrat.

Es erschien Ukanien äußerst vorteilhaft, in die Bündnisse der Eutopier aufgenommen zu werden - in die Eutopische Union, und das möglichst sofort, und gleichzeitig in ein Verteidigungsbündnis, das streng nach der biblischen Forderung handeln würde: „Was du dem geringsten meiner Brüder tust, das hast du mir getan!“ Das Ziel, in beide Bündnisse aufgenommen zu werden, war vorsichtshalber schon sehr früh in der Verfassung von Ukanien verankert worden. 

Auch dafür standen die Zeichen günstig, denn Robustia hatte unter seinem Anführer, den man den ‚Koloss’ von Robustia nannte, eine kleine, politisch autonome Halbinsel aus Ukanien heraus- und an sich gerissen und behauptet, die Bevölkerung dort habe es so gewollt. ‚Koloss’ wurde er übrigens nicht wegen seiner Gestalt genannt, denn er war eher klein, fast mickrig, sondern weil er Herr über zahllose Atomraketen war, die sogar in die weit entfernten Dominantischen Staaten Tod und Verderben tragen konnten. Und die lagen immerhin weit, weit entfernt, auf der anderen Seite des großen Atlantik!

Aus irgendeinem Grund, vielleicht weil die Ereignisse sie ermutigt hatten, schienen nun auch die Bewohner der östlichen Provinzen willens, lieber wieder Robustier als Ukanier zu sein. Sie sprachen allerdings auch zum größten Teil robustisch und nicht ukanisch, waren oft sogar echte Robustier und wurden von den Ukaniern deshalb für laut und primitiv gehalten. So etwas steigerte ihre Lebensfreude nicht.

Um es kurz zu machen: In den Ostprovinzen Ukaniens bildete sich eine Art Untergrundarmee. Sie wollte die Abtrennung von Ukanien und den Anschluss an Robustia erzwingen. Die Armee Ukaniens bekämpfte sie nach Kräften und verschmähte auch die wüstesten Mittel nicht, die Untergrundarmee bei der Bevölkerung verhasst zu machen. Auch der Koloss von Robustia hatte wohl irgendwie seine Finger im Spiel, aber Genaues erfuhr man nicht. Schon gar nicht die Wahrheit, die es bereits zu dieser Zeit in sehr vielen, ganz verschiedenen Versionen zu geben schien.

Eutopia nahm alles zur Kenntnis, machte ab und zu einen zaghaften Vorschlag und beließ es dabei. Schließlich drehte es sich dabei nicht um die wichtige Brennluft.

„So geht das nicht!“ murmelte der Oberpoligarch, „So werden wir mit unserem Einfluss auf Eutopia nicht weiterkommen…“

* * *

„Kann man das bisher so stehen lassen?“ fragte ich meinen Laubfrosch, der neben mir auf dem Schreibtisch in seinem Glas hockte, auf der obersten Sprosse der kleinen Holzleiter. Er hatte meine Geschichte mitgelesen und zog die weißlich- grünen Augendeckel hoch. „Na ja… du hast dich aber nicht groß mit Details aufgehalten!“

„Das wollte ich auch nicht. Erstens ist es ein Märchen, und da darf man das. Außerdem bin ich erst beim Rahmen der Geschichte - ihr wichtiger Teil kommt erst noch!“

„Wenn du meinst,“ quakte der Grüne, platschte mit seinen großen Füßen eine Stufe tiefer und schloss die Augen. „Ich hätt’s anders erzählt.“ - Er klang leicht beleidigt.

* * *

Wieder einmal steckten die Poligarchen die Köpfe zusammen. Der Staat war fast pleite, und das gefährdete auch ihre eigenen Besitztümer und Möglichkeiten. Geld aus der Eutopischen Union, Rückendeckung aus dem Westen und Ruhe im Land - das wäre wichtig. Der Poligarch, dem ein großer Teil der Medien in Ukanien gehörte, hatte einen besonders guten Gedanken. „Ich hätte da jemanden… und auch einen Plan.“ Er bestimmte nämlich, was man im Lande hören und sehen konnte und wer ein großer Star werden würde.

Und wie der Medienpoligarch es geplant hatte stieg der von ihm heftig protegierte, voll finanzierte und sogar durch des Poligarchen eigene Leibwächter bewachte Medienclown namens Waldemar Pestilenzki unaufhaltsam in der Wahrnehmung der Bevölkerung nach oben.

In einer Seifenoper war er bereits mehrfach als Präsident aufgetreten. Schon das schien für viele Menschen in Ukanien einen deutlichen Kompetenzvorsprung gegenüber seinen Mitbewerbern darzustellen. Dabei hatte er doch nur den Text aus dem Drehbuch nachgesprochen! Dennoch - sie wählten ihn.

Im Wahlkampf hatte Pestilenzki keinerlei Ziele für seine eventuelle Amtszeit vorgegeben. Wie auch. Dafür gab es ja kein Drehbuch. Und dass er von überhaupt nichts irgendetwas verstand deutete er zu einem Vorteil um: Er könne dadurch jegliche Aufgabe unbefangen angehen!

Das tat er dann.

Die östlichen Teilregionen von Ukanien wurden immer noch von einem Kleinkrieg geschüttelt. Robustia setzte dem ein Ende, indem es die Ostregionen nach einem Referendum für selbstständig erklärte, einen Vertrag mit ihnen schloss und robustisches Militär dort stationierte. Der Bevölkerung in den Ostprovinzen und wahrscheinlich auch im Kernland Ukaniens wäre das wahrscheinlich auch auf Dauer völlig egal gewesen - Hauptsache, man konnte endlich in Ruhe sein Leben weiter führen.

Für die Poligarchen entwickelte sich die politische Lage nicht schlecht. Endlich flossen Hilfsgelder! Eutopia war nun fast durchgehend in alle Streitigkeiten zwischen Ukanien und Robustia involviert, obwohl sich der Streit um die Brennluft - Durchleitung entschärft hatte. Es gab inzwischen schon ein Jahrzehnt lang eine erste direkte Rohrleitung von Robustia nach Knautschland, eine zweite war auch betriebsbereit. Sie durfte aber nicht in Betrieb gehen, weil man in Knautschland wieder einmal die Abkanzelung durch die Dominantischen Staaten fürchtete und entsprechend die Hosen voll hatte.

Pestilenzki, der neue Präsident, machte sich erst einmal weltweit wichtig. Er hielt Video- Ansprachen in Parlamenten und anderen bedeutenden Organisationen und präsentierte sich seinen Landsleuten gegenüber als wackerer, unbeeinflussbarer Kämpfer gegen die horrende Korruption im Land. Fast wäre er dabei über die eigenen Füße gestolpert. Es stellte sich dummerweise heraus, dass auch er Briefkastenfirmen im Ausland besaß, mit denen Gewinne an Ukanien vorbei in die Taschen seiner Familie flossen.

Aber, so hieß es zur Erleichterung des Westens, in Ukanien sei das nicht strafbar… Womöglich, weil ein Durchschnitts- Ukanier mangels Möglichkeit und Masse gar nicht auf diese Idee verfallen konnte?

Gleich nach seinem Amtsantritt und auch während der Pandemie schob er eine Anzahl von Projekten an, die unter anderem den Poligarchen nicht gefallen konnten. Sein Profil im Lande schärfte sich dadurch, die Akzeptanz in der Bevölkerung stieg.

Vor lauter Selbstdarstellungseifer übersah Waldemar Pestilenzki, dass der Koloss von Robustia schon seit einiger Zeit Militär aus der Region Moskau und aus dem hintersten Sibirien an die Grenze von Ukanien verlegte, ganz gemächlich. Sehr merkwürdig. Die Geheimdienste der Dominantischen Staaten warnten ihn vor einer Invasion, doch er unternahm nichts, wollte er doch niemanden im Volk beunruhigen.

* * *

„Bist du jetzt endlich bei deiner Hauptsache?“ quakte der Laubfrosch aus seinem Glas neben mir. „Gottogott, ein einziges Chaos ist das. Hält man kaum aus, dieses Durcheinander! Und märchenhaft ist es auch nicht - bloß dass du’s weißt!“

„Für das Chaos kann ich nichts - das hat die Realität geliefert. Aber märchenhaft ist es trotzdem, weil jeder seine Rolle hat: die Dreisten sind dreist, die Dummen dumm, die hinterlistigen hinterlistig, die Bösen böse und die Angsthasen…“

„Ich hab’s kapiert! Du kannst weiterschreiben. Aber wenn es doch kein Märchen wird, schreite ich ein! Ich schreite ein, wirklich! Kannst du glauben!“

Mein armer Laubfrosch war voller Aufregung auf die oberste Stufe seiner Leiter gestiegen und hatte sich weit vorgebeugt, halb über den Rand des Glases hinaus.

„Okay, so machen wir es. Reg’ dich ab und fall’ nicht aus deinem Glas!“

* * *

Die Situation in Ukanien entwickelte sich so, wie Murphys Gesetz schon sagte: ‚Was schief gehen kann geht schief.’

Die Truppen des Koloss von Robustia überschritten die Grenzen von Ukanien, unfairerweise gleich an mehreren Stellen. Pestilenzki merkte zu spät, dass inzwischen auch die letzte Chance zu Verhandlungen über die Ostregionen vertan war.

Er brauchte Hilfe. Doch er bat Eutopia nicht etwa um Hilfe, nein, er forderte, ziemlich frech, damit den Eutopiern ihre Verpflichtung klar wurde.

Forderte Waffen, Unterstützung, Geld, gerade so, als habe Eutopia sein Land in diesen Krieg getrieben und sei nun verantwortlich. Seine Videoschaltungen wurden inflationär, nicht nur zu sämtlichen Parlamenten, die dies erlaubten, sondern auch zu Preisverleihungen in Cannes, zu den Grammy- Awards oder nach Venedig zur Biennale und anderen bisher unpolitischen Anlässen. Alle Welt hatte sich jetzt mit Ukanien zu solidarisieren.

Sein Outfit war inzwischen nur noch das olivgrüne Shirt. Waldemar Pestilenzki befand sich im Kriegszustand. Ohne Drehbuch.

Im Rahmen des Kriegsrechts, das er sofort ausrufen ließ, traten drastische Einschränkungen in Kraft: Insgesamt elf Oppositionsparteien wurden verboten, darunter zwei, die sogar im Parlament vertreten waren, Reservisten wurden eingezogen und die Freizügigkeit für wehrpflichtige Männer aufgehoben.

Sämtliche TV- Sender wurden ‚zusammengelegt’, so nannte er es beschönigend. In der ‚bösen Zeit’ in Knautschland hatte man so etwas als ‚Gleichschaltung’ bezeichnet. Eigentlich hätte das nie wieder geschehen sollen.

Medienclown Pestilenzki fällte noch eine ganze Reihe von weiteren zweifelhaften Entscheidungen. Um in Zukunft jedes Einlenken gegenüber Robustia unmöglich zu machen verfügte er per Dekret, dass es niemals mehr zu Verhandlungen mit Robustia kommen dürfe. Er verbaute jeden Weg zurück.

Seine Position als Kriegsherr stärkte das erheblich.

Und Eutopia erstarrte in einem völlig unbegründeten schlechten Gewissen. Dass es so weit kommen konnte! Die Regierungen sagten aber umgehend jegliche Unterstützung zu, hofften dennoch, sich drücken zu können. Es half nicht. Eutopias Medien überschütteten die Öffentlichkeit mit Schauermeldungen und ebenso gruseligen, meistens gut gefakten Fotos. Auch wenn die Zeitungen und TV- Kanäle jedes Mal hinzusetzten, dass man den Wahrheitsgehalt der Informationen nicht überprüfen könne -  publiziert wurden sie trotzdem. In kurzer Zeit entstand in der eutopischen Bevölkerung, allen voran Knautschland, ein unglaubliches Maß an Mitleid mit Ukanien. Es war Krieg, immerhin, und die Alten erinnerten sich noch, was das damals bedeutet hatte, in der ‚bösen Zeit’. Die Medien im Lande entfachten eine beinahe hysterische Empathie, die nicht mehr nach Ursachen fragte.

Gleichzeitig kippte die neutrale bis positive Einstellung gegenüber Robustia. Man hatte gute Geschäfte miteinander gemacht, bezog sogar seine gesamte Brennluft zu vernünftigen Preisen aus Robustia, immer noch. Daran hatte der Konflikt bisher kaum etwas geändert. Doch in Knautschland gibt es immer nur zwei Zustände: Jemand, sei es ein Mensch oder ein Land, ist ganz gut oder ganz böse.

Robustia war selbstverständlich ganz böse und Ukanien das arme Opfer.

Knautschland kündigte brav alle Abnahmeverträge für die Brennluft, befahl allen kulturell - vökerverbindenden Institutionen zurückzukehren, entzog robustischen Medien die Lizenzen für Knautschland. Alle Verantwortlichen, die jemals positiv über Robustia gesprochen hatten oder, noch verwerflicher, an Projekte mit Robustia geglaubt hatten - sie alle mussten widerrufen, wie früher vor der ‚heiligen’ Inquisition. Und alle taten es, schändlicherweise.

Der Funke des Abscheus sprang sofort weiter. In Knautschland wurden robustische Opern und Balletts vom Spielplan genommen, robustische Kunstausstellungen abgesagt, robustische Sängerinnen durften nicht mehr singen, robustische Tänzerinnen nicht mehr tanzen. Vereinzelt soll es sogar zu Bücherverbrennungen gekommen sein. Die robustische Kultur und ihre Wahrnehmung war tot, platt geschlagen, ein Blutopfer für Ukanien. Welch ein jämmerliches Verhalten für ein früheres Kulturland! - Auch der Sport wurde bereinigt: Keine robustischen Athleten durften mehr antreten, keine Fußballer kicken, keine Flaggen Robustias bei Veranstaltungen gezeigt werden.

Ukanien hatte die Oberhoheit über das Leben in Eutopia erlangt.

In ganz Eutopia beschlagnahmte man die Güter robustischer Poligarchen, ohne jemals die mindeste Erklärung abzugeben, nach welchem Recht das eigentlich geschah. Nicht, dass man die Superreichen bedauern müsste. Doch wenn man genau hinsah, wirkten die Einzelheiten dieser unglaublichen Hysterie in vielen Punkten wie das, was man - im Rückblick - an der ‚bösen Zeit’ so verabscheute: Hatte es damals nicht auch ‚Sippenhaftung’ gegeben?

Wehe dem Einheimischen in Knautschland, der nur ein kritisches Wort verlor! Da half keine Klugheit, kein Professorentitel, nichts. In den Abgrund mit ihnen! ‚Sollten wir nicht erst einmal gründlich nachdenken…?’ Nein, hier wird nicht mehr nachgedacht. Die Sache ist sonnenklar! - Ein reines Glück, dass öffentliche Hinrichtungen ‚vom Leben zum Tode’ abgeschafft waren. Sie wurden ersatzweise medial vollzogen, was für manche der Mutigen ebenfalls heftige Konsequenzen hatte.

Und gleichzeitig erschien - wie von selbst - restlos alles gut, was ukanisch war, berechtigt oder nicht. Man schmückte Gebäude mit ukanischen Flaggen, wickelte sich in Fahnentücher und demonstrierte spontan oder geplant für Ukanien. Preise für Ukanien wurden verliehen. Das Fernsehen zeigte ukanische Filme, sogar Serien, und es gab keine Talkshow mehr, in deren Thema oder mindestens Untertitel nicht das Wort ‚Ukanien’ vorkam. In den Kirchen hingen ukanische Fahnentücher über den Altären. Man betete vor diesen Tüchern… für wen denn nun?

Bereits in den ersten Kriegstagen setzten sich Hunderttausende von Ukaniern in Bewegung. Die meisten aus den Ostprovinzen kommend, manche aus der Mitte, und sie strömten in Richtung Westen. Ein Exodus, der allerdings den sicheren Westen ihres großflächigen Landes nur streifte, denn dort wollte man sie nicht gerne haben. Besonders die ‚Ostler’ nicht, die auch noch robustisch sprachen. Ihre Reise führte direkt durch bis nach Polen, später dann in großer Anzahl nach Knautschland. Hier wedelte die Regierung mit Willkommensparolen obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie danach diese Massen beherbergen und betreuen wollte.

Dass es offenbar in Ukanien selbst keine Unterkünfte oder Flüchtlingslager für die eigenen Bürger gab schien niemandem aufzufallen. Staatsbesuche aus Eutopia endeten jedenfalls immer in der Hauptstadt, nie in einem Lager, auch nicht im Parlament.

Die täglichen Nachrichten aus dem ‚Kriegsgebiet’ überschlugen sich und schürten weiter die aufgepeitschten Emotionen. Es störte kaum, dass es zu dieser Zeit nur eine einzige Presseagentur war, von der die ‚news’ stammten. Auf jeden Fall hatten die Regierungen Eutopias begriffen, dass sie Ukanien unterstützen mussten, weil das ihre oberste Pflicht war. Um jeden Preis! Ein winzig kleines Problem blieb: Für die eigene Bevölkerung gute Gründe mit Langzeitwirkung dafür zu finden.

Ukanien half ihnen aus der Klemme. Pestilenzki stellte nämlich klar: Man verteidige hier die Demokratie und die Werte Eutopias und der westlichen Welt!

Welche Werte meinte er denn? Demokratie…? die Ukanier hätten sie wohl gerne gehabt, aber bisher war ihr Staat ein Filz aus undurchschaubaren Schiebereien, aus Begünstigung und  Ausbeutung. Oder die Presse- und Meinungsfreiheit? Die hatte er gerade abgeschafft, jegliche Opposition ebenfalls, auch die Religionsfreiheit eines Teils der Orthodoxen war unter die Räder gekommen. Überhaupt ein merkwürdiges Statement von einem Präsidenten, der vorher Seifenopernstar war, nur nach oben gepuscht durch einen Medienmogul.

Wie auch immer: Waldemar Pestilenzki thronte nun widerspruchslos als Diktator und oberster Kriegsherr über dem ganzen Elend. Dazu war das Land korrupt, abgewirtschaftet und verdorben bis zum Anschlag.

Ganz nebenbei starben täglich Menschen, auf beiden Seiten.

Eutopia schickte dennoch Geld, anfangs im guten Glauben, völlig ohne Kontrolle, und enthielt sich wieder einmal jeder eigenen Meinung. Bald folgten Waffen, leichtere und schwerere, erst zögerlich, denn so sicher war man sich in Eutopia nicht, dass man richtig handelte und auch nicht, warum man es überhaupt tat. Doch ausgesprochen werden durfte das nicht, auf politischer Ebene schon gar nicht. Die Zeit der Selbstzweifel war vorbei.

Ukanien hatte einen pubertären Flegel als Botschafter in die Hauptstadt entsandt. Weil ihm die - inzwischen immer dreister eingeforderte - Hilfe zu wenig erschien und viel zu langsam vorankam, durfte er sich erlauben, selbst den Präsidenten Knautschlands und andere Staatsvertreter abzubügeln und anzupöbeln, ohne dass man ihn zurechtwies oder gar davonjagte.

Das gutmütige und gutgläubige Eutopia hatte jede Entscheidungsfreiheit verloren. Es ging nicht mehr darum, ob, sondern nur noch um was - wie viel - wann.

Auch die Dominantischen Staaten, Eutopias ‚Brüder im Geiste der westlichen Freiheit’ schickten massiv Unterstützung. Ganz uneigennützig. Fast... Mit Stellvertreterkriegen kannte man sich dort bestens aus, und mit ein wenig Nachdruck konnte man auch den Krieg in Ukanien in diese Richtung biegen, wieder einmal dem Erzfeind in Robustia die Zähne zeigen!

Vielleicht war man sich nach einiger Zeit in Ukanien nicht sicher genug, dass der Hilfswille der Eutopischen Staaten anhalten würde. Zu gerne hätte Ukanien das Verteidigungsbündnis des Westens in den Krieg hineingezogen, doch dafür gab es bis jetzt noch keine Veranlassung. Ukanien war noch nicht Mitglied, konnte es zum Glück momentan auch nicht werden.

Wenn sich aber… eine großräumige Katastrophe für Eutopia ereignete?

Zu dieser Zeit begab es sich, dass Robustia eine große Dampfkessel- Anlage militärisch besetzt hielt, um sie aus gefährlichen Schießereien herauszuhalten. Wäre sie explodiert, dann hätte das neben Ukanien auch einen Teil von Robustia und Eutopia verwüstet. - Vielleicht konnte man nun die Druckkessel zur Explosion bringen, wenn man sie beschoss? Es dann den gewissenlosen Robustiern anlasten? Dann müsste doch wohl das Verteidigungsbündnis Eutopias zur eigenen Sicherheit eingreifen.

In den eutopischen Nachrichtenkanälen berichtete man regelmäßig über den Beschuss, enthielt sich aber jeder Schlussfolgerung und behauptete, stereotyp, dass sich beide Seiten gegenseitig beschuldigten. Man könne daher nicht sagen etc. etc., wohl wissend, welchen Unsinn man da erzählte.

Die Unterstützung Ukaniens und gleichzeitig die Sanktionierung von Robustia wurden zum Selbstläufer. Knautschland hatte sich - energietechnisch - bereits ein Bein abgesägt, aber das war längst nicht genug an Unterstützung. Die von Ukanien verlangten Waffen wurden immer schwerer, das Risiko, selbst unversehens im Krieg mit Robustia zu stehen, immer größer. - Dann behauptete irgendwann sogar das etwas dümmliche Tausendschönchen, das Knautschland als Ministerin durch die Welt schickte, man sei bereits im Krieg gegen Robustia!

Zum Glück ließ sich wenigstens dieser Fehler korrigieren.

Auch in Knautschland sprachen die Medien schon lange mit einer Stimme, genau wie in Ukanien. Aus Überzeugung, selbstverständlich. Man nannte das nicht ‚gleichgeschaltet’, doch es lief aufs Gleiche hinaus. Tägliche Bilder von Tod und Zerstörung häuften weiter Asche auf Robustias Haupt. Und Menschen starben, beiderseits.

Sonderbar – warum verschwendete niemand nur einen Gedanken daran, wo eigentlich die Raketen und Granaten der Ukanier einschlugen, die sie rund um die Uhr abfeuerten? Sogar einige ihrer Kanonen wurden unbrauchbar, weil die Hitze des Dauerfeuers die Rohre verzog. - Auch kein Grund zum Nachdenken? Nicht einmal, als bekannt wurde, dass Ukanien fast den Munitionsvorrat des gesamten Westens im eigenen Land verschossen hatte? Nahm man an, die Geschosse würden in der Luft bleiben? Keine Häuser, keine Schulen, keine Krankenhäuser zerstören? Keine Menschenleben auch unter der Zivilbevölkerung kosten? Wo waren denn Fotos, Reportagen, Informationen darüber?

Von den so genannten ‚Verantwortlichen’ in Eutopia konnte man nicht viel anderes erwarten, doch selbst die Kirchen sprachen sich für ein grenzenloses, auf jeden Fall aber hirnlos ausgeweitetes Selbstverteidigungsrecht aus. Man betete. Das musste reichen.

Der Gedanke an Frieden war erloschen, war tabu geworden.

Weit weg, hinter dem großen Ozean, verfolgte der ‚Große Bruder’ Eutopias eigene Pläne. Den Dominantischen Staaten war besonders die Brennluft - Verbindung zwischen Robustia und Knautschland längst ein riesiger Dorn im Auge. Sie hatten alles versucht, um die ‚Abhängigkeit’ Knautschlands von Robustia zu verhindern. Bitten, Sanktionen, Drohungen hatten nichts genützt - schon die zweite Rohrleitung führte ohne Zwischenstopp direkt von Robustia nach Knautschland! Empörend!

Wie viel flüssige Brennluft könnten die Dominantischen Staaten verkaufen, wenn es diese Leitung nicht mehr gäbe! Abhängig war Knautschland ohnehin, aber dann bitte vom ‚Großen Bruder’! So, wie es jetzt war, füllte Knautschland doch nur die Kriegskasse der Robustier…

Die mehr oder weniger freundliche Einflussnahme hatte man eingestellt. Der Präsident der Dominantischen Staaten, ein dürrer Greis, äußerte beim Besuch des Staatsoberhaupts von Knautschland, dass diese zweite Rohrleitung nie in Betrieb gehen werde.

„Wie können Sie da so sicher sein, Mr. President? Das ist doch einzig eine Sache zwischen Knautschland und Robustia.“ fragte ein Reporter nach.

„Glauben Sie mir - wir haben Mittel und Wege…“ antwortete der Alte.

Eine ziemlich eindeutige Aussage.

Der Knautschländer - Chef stand direkt neben ihm, wie ein Hundehäufchen auf dem Gehweg. Er holte tief Luft und sagte: Nichts! - Schwieg einfach, obwohl der Dürre soeben die Autonomie seines Heimatlandes für Null und nichtig erklärt hatte! Von den Medien wurde der Besuch allgemein als ‚freundschaftlicher Schulterschluss in guter Atmosphäre’ bewertet.

Wenig später zerfetzten starke Explosionen die Brennluft - Rohrleitungen in der Ostsee. Alle Anrainerländer mühten sich nach Kräften, die Ursache festzustellen, doch wie es manchmal so dumm geht - alle Analysen dauern an und die Experten sind ratlos. - Wunderte sich noch immer niemand? Kein medialer Aufschrei? - Wie? Eine komplette Blutanalyse bekommt man in drei Tagen, und darin sind die zahlreichen Inhaltsstoffe um Größenordungen schwächer vorhanden als Sprengstoffreste im Wasser der Ostsee. Es sollte doch wohl möglich sein…

Die Spirale des Irrsinns drehte sich weiter.

Eutopische Windbeutel aus allen Parteien standen Schlange für einen Fototermin in Ukanien, ließen sich vor Ort abkanzeln oder loben, je nach ihrer vorherigen Überzeugung, machten aber regelmäßig neue Zusagen. Dass sie dafür vielfach gar keine Legitimation besaßen störte in diesen Zeiten niemand, besonders in Knautschland nicht. Die Medien ignorierten dieses Faktum einfach. Und der Opposition im Land konnte es gar nicht genug sein an Waffen und Geld gegen die verhassten Robustier.

Selbst der Gedanke, wenigstens einen Waffenstillstand zwischen den Kriegsparteien zu erreichen war zum Sakrileg geworden. Ein übergeschnappter kleiner Diktator namens Pestilenzki bestimmte jetzt die Geschicke Eutopias. Er faselte von Rückeroberung, vom Durchhalten und in seine Fernsehansprachen, die er perfekt vortrug, weil er das gelernt hatte, war gefährlich oft das Wort ‚niemals’ eingebaut.

Nun, da Ukanien deutlichst erkannt hatte, wie leicht man Eutopia vor sich hertreiben konnte, schaltete man einen Gang höher.

Sie hatten schwere Geschütze, Luftabwehrsysteme, massenhaft Munition und schließlich moderne Panzer bekommen - warum nicht auch moderne Kampfflugzeuge? Also wurde wieder gefordert, gedrängt, verlangt.

Eutopias Staaten übertrafen sich jetzt schon gegenseitig. Sie lieferten noch mehr noch schwerere Waffen, ließ Unmengen von Munition produzieren, bildeten Soldaten aus Ukanien an den schweren Waffen aus, versicherten Robustia aber gleichzeitig, man sei nicht an den Kriegshandlungen beteiligt. - Aber bei jeder neuen Lieferung wiesen die Robustier auf die schmale rote Linie hin, die noch vom Desaster trennte.

Trotzdem. Kampfjets gingen an Ukanien. Die Robustier protestierten, warnten, drohten. Als Antwort zeigten eutopische Medien noch mehr schaurige Bilder über robustische Kriegsverbrechen. Bald waren die Jets verbraucht. Ein paar von ihnen hatten es vor ihrem Abschuss gefährlich weit nach Robustia hinein geschafft. In Eutopia runzelte sich manche Stirn.

Ukanien forderte weiter.

Ohne Raketen mit größerer Reichweite sei der Krieg nicht zu gewinnen, ließ Kriegsherr Waldemar Pestilenzki wissen, der noch immer freihändig ohne Drehbuch agierte. - Mit Raketen dagegen stehe man kurz vor dem Endsieg!

Die Einfältigkeit der Eutopier schlug Purzelbäume. Zwar erinnerten sich einige an die Phrase vom ‚Endsieg’. Das ungute Gefühl dabei gefiel ihnen nicht. - Aber nein, man konnte jetzt nicht einfach aufhören mit der Unterstützung. Damit würde man doch seine bisherige Handlungsweise verraten, gar die Robustier bestärken. Und kämpfte Ukanien nicht für die westlichen Werte?

Abweichler - nur eine verschwindende Minderheit, sagte die Regierung - hielten das weiterhin für eine ganz und gar verlogene Darstellung. Doch wer hörte die noch? Die sozialen Medien waren weitgehend abgeschaltet, ebenso auch die meisten freien Fernsehkanäle.

Die Abweichler, Gegner der geplanten Raketenlieferung, viele, noch immer mehr als erwartet, organisierten Demonstrationen, Sitzblockaden, sie besetzten Flugplätze und Bahngleise. Schlagstöcke, Tränengas, Wasserwerfer, berittene Polizei, Gummigeschosse trieben die Widerständler auseinander oder gleich in die Polizeitransporter. Große, beinahe im chinesischen Stil staatlich organisierte Gegendemonstrationen zeigten in Sondersendungen des ‚koordinierten’ Fernsehens, auf welch’ verlorenem Posten diese Schwachköpfe standen.

Ja, auch offiziell gab es einige - nur leise geäußerte - Bedenken. Nicht allzu lange vorher hatte man irritiert vernommen, dass Pestilenzki sogar international geächtete Waffen verlangte, Streubomben und Phosphorgranaten, Munition also, die auch die eigene Bevölkerung im weiten Umkreis der Gefechte zerfetzen oder verbrennen würde. - Es ging ihm blindwütig nur noch um den Sieg.

Darauf hatte sich keines der Länder von Eutopia eingelassen. Natürlich nicht! Es gab Grenzen. Und Ethik…

Das Kabinett von Knautschland beschloss, im Auftrag Eutopias Raketen zu liefern. Aus Beständen der Dominantischen Staaten. Sie lagerten ohnehin auf dem Staatsgebiet von Knautschland und konnten mit dort vorhandenen ‚leichten’ Sprengköpfen bestückt werden. Sicherheitshalber beschränkte man die Lieferung vorerst auf fünf Stück. Nur als symbolische Handlung, erst einmal, um den Robustiern klare Kante zu zeigen. Vom großen Kriegsherrn Pestilenzki verlangte man eine Garantie, dass er die Projektile nur über eigenem Territorium einsetzen werde.

Dann ging der Transport nach Ukanien ab.

Vier Tage später waren die Raketen in der Luft. Drei rasten Richtung Moskau, eine auf Wolgograd zu, die letzte explodierte wegen eines Defekts am Boden und hinterließ einen gigantischen Krater und zahllose Tote.

In Robustia war man wachsam gewesen. Auch von dort starteten Raketen. Die flogen nach Eutopia und trugen ebenfalls nur leichte Sprengköpfe. Vernichtend zwar, aber auch bloß ‚symbolisch’.

In den Dominantischen Staaten, weit weg, wusste man anscheinend nicht, dass es nur eine symbolische ‚kleine’ Zerstörung Eutopias sein sollte, eine allerletzte Warnung. - Möglich auch, dass man es gar nicht wissen wollte.

Der dürre Alte in seinem ovalen Büro jedenfalls drückte den roten Knopf, ohne eine Miene zu verziehen.

* * *

„Bist du wahnsinnig?“ Mein Laubfrosch sprang mit einem Riesensatz aus dem Glas. Jetzt hockte er, mit bebenden Flanken, völlig aufgelöst, neben meiner linken Hand auf dem Schreibtisch und quakte lauthals zu mir hoch.

„Du - hast - gesagt - es - wird - ein - Märchen! Und zum Kuckuck, das ist keins! Märchen hören auf mit ‚und sie lebten glücklich bis an ihr Ende’ - und nicht anders!“

Dann musste er Luft holen.

Ich nützte meine Chance. „Und wenn sie nicht glücklich bis an ihr Ende leben?“

„Dann ist es…“ er schnappte nach Luft, „…kein Märchen! Aber du hast es… versprochen! Also schreib’ es gefälligst RICHTIG! - du machst den Menschen nur sinnlose Angst!“

Ich hob ihn sachte wieder in sein Glas, setzte ihn auf der obersten Stufe seines Leiterchens ab. Er hielt dabei den breiten Kopf schräg und ließ mich nicht aus den Augen. Als er sich wieder behaglich eingeruckelt hatte fragte er nur noch: „Und??“

„Ist gut. Wahrscheinlich hast du Recht. Es war ein Fehler. Wenn man den Menschen vorgaukelt, schlimme Aktionen seien alternativlos, dann fallen sie in Schreckstarre, anstatt sich zu wehren.“

Mein kleiner grüner Freund (der keiner Partei angehörte!) tapste langsam seine Leiter hinunter und kauerte sich auf dem Boden des Glases zusammen. „Weck’ mich, wenn du das Märchen fertig hast,“ quakte er leise, „ich brauche jetzt eine Pause… bin emotional fix und fertig.“

* * *

Wo konnte ich anfangen, die Ereignisse zu einem erträglichen Ende zu führen? Vielleicht als Arbeitshypothese damit, dass ich einige vernunftbegabte, durchsetzungsfähige Menschen unter die Verantwortlichen streute? Oh, man musste gar nicht alle erfinden. Einer von ihnen hatte schon zu Anfang, während des ersten Konflikts, einen guten Weg aufgezeigt.

Aber eines nach dem Anderen und weit zurück zum Anfang.

Bald nach dem Einmarsch, den der Koloss von Robustia aus ziemlich fadenscheinigen Gründen angeordnet hatte, steckten die ‚Sager’, also die Verantwortlichen der Staaten Eutopias, die Köpfe zusammen. Wie überall, wenn eine Gruppe von Menschen zusammenkommt, waren unvermeidlich ein paar ‚Ver-Sager’ darunter, doch nehmen wir einfach an, sie seien die Minderheit gewesen.

Der Sitzungspräsident schnippte mit dem Finger gegen sein Mikrofon. Es knallte laut im großen Saal, alle zuckten zusammen und blickten zu ihm. Zufrieden hob er an:

„Die Situation in Ukanien hat sich äußerst bedrohlich entwickelt, meine Damen und Herren. Wir brauchen ein Konzept, besser noch, eine Lösung!“

Die meisten in der riesigen Runde klopften mit den Fingerknöcheln auf den Tisch, was Beifall bedeuten sollte. Dann trugen sie alle Fakten zusammen, so wie sie im Moment erkennbar waren, und man versuchte, nicht voreingenommen zu sein. Eine sehr schwere Übung für die meisten der Anwesenden. Doch alle waren sich einig, dass der eben erst entflammte Krieg sofort beendet werden müsse, um kein Pulverfass am Rande von Eutopia entstehen zu lassen.

„Die Robustier werden sich nicht darauf einlassen!“, meinte einer. „Sie wollen die zwei östlichen Regionen wieder an Robustia anschließen - und erinnern Sie sich bitte, was vor einiger Zeit auf der Halbinsel geschehen ist!“

„Wir dürfen dabei aber nicht übersehen, dass beinahe jeder Fünfte in Ukanien robustische Wurzeln, sogar robustisch als Muttersprache hat. Die meisten dieser Ukanier konzentrieren sich doch sowieso in den Ostgebieten“, gab ein anderer zu bedenken.

„Ukanien wird auf keinen Fall zustimmen.“

Der Sitzungspräsident schaltete sich wieder ein. „Angenommen, beide Seiten akzeptieren uns überhaupt als Vermittler - dann müssen wir ihnen etwas anbieten, sodass sie ohne großen Gesichtsverlust aus dem Konflikt herauskommen.“

„Ukanien wird auf keinen Fall zustimmen.“

„Lieber Kollege, das sagten sie doch eben schon!“

„Das ist aber unser erstes Hindernis auf dem Weg“, antwortete der Angesprochene. „Wir werden ohne sehr klare Worte bei Herrn Pestilenzki keinen Schritt vorankommen. Bedenken sie den lächerlichen Brennluft - Streit mit Robustia, der ein Jahrzehnt lang getobt hat und dem man eine gewisse Böswilligkeit seitens Ukanien nicht absprechen kann.“

„Buh!“ schrie irgend  jemand.

Der Sitzungspräsident schlug vor, sich vorerst in kleinen Gruppen abzustimmen und dann im Plenum weiter zu beraten. „Dürfte ich vorher noch Knautschland, das sehr enge wirtschaftliche Verbindungen zu Robustia unterhält, um eine Stellungnahme bitten?“

Der Vertreter Knautschlands räusperte sich.

„Kolleginnen und Kollegen! Kriege sind furchtbar, und die schlimme Erinnerung daran ist noch im Volksbewusstsein verankert. Wir wollen nie wieder Krieg. Unsere Verbindungen zu Robustia sind für uns ein Beitrag dazu, ein Mittel, uns wirtschaftlich, aber auch menschlich anzunähern, auch wenn die Gesellschaftssysteme unterschiedlich sind. Die Welt wird enger.

Selbstverständlich ist eine erhebliche Abhängigkeit mit unserer Brennluft - Versorgung aus Robustia verbunden. Allerdings kann Knautschland - ein Land ohne ausreichende Energie- und Rohstoffvorräte - beim aktuellen Stand der Dinge nicht autark sein. Die Frage ist, von wem man verlässlich abhängig sein kann. Und da bezweifle ich zum Beispiel, dass es helfen würde, von einer Vielzahl von Ländern mit unterschiedlicher Energie auf einer Vielzahl von Wegen beliefert zu werden.

Robustia hat sich bisher als guter Handelspartner erwiesen. Es gibt keinen Grund, das in Frage zu stellen. Sicher, es ist fossile Energie, wie wir alle wissen, und bei jeder Verbrennung entsteht Kohlendioxyd. Wir alle sind auf dem Wege in ein neues Energiezeitalter. Manche Länder sind von der Natur begünstigt, andere nicht, so wie Knautschland. Aber bis zu einer dauerhaften alternativen Energiesicherheit vertraut unsere Industrie, vertrauen unsere Bürger, auf die Brennluft - Lieferung aus Robustia.

‚Ein gutes Geschäft ist, wenn beide Seiten zufrieden sind’ - kennen Sie. Ein Allerweltsspruch. Zu diesem Zeitpunkt ist das der Fall, und wir gedenken nicht, zugunsten einer überstürzt schrankenlosen Begünstigung von Ukanien daran etwas zu ändern.

Der Konflikt - nennen Sie ihn Krieg - darf nicht auf dem Rücken der Eutopier ausgetragen werden. Lassen Sie uns alle Möglichkeiten ergreifen, die Lösung diplomatisch herbeizuführen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!“

„Gut. Wir treffen uns hier wieder um 16 Uhr“, sagte der Sitzungspräsident, „die Sitzung ist bis dahin unterbrochen.“

An diesem Tag wurde bis spät in die Nacht debattiert, vereinbart, wieder verworfen, und dennoch kam es am Ende zu einer Absichtserklärung. Die Eutopier hatten eine Kommission bestimmt, die wechselweise mit Waldemar Pestilenzki und dem Koloss von Robustia sprechen sollte.

Vorher musste allerdings geklärt werden, ob beide Seiten die Kommission akzeptierten.

Während diese Sondierungen liefen unterbreitete der Staatspräsident von Knautschland, ein ernsthafter, verständiger Mann, dieser Kommission erneut einen Lösungsvorschlag, den er schon ähnlich während des Bürgerkriegs in den Ostprovinzen vorgetragen hatte:

Nach einem Waffenstillstand unter Kontrolle der Vereinten Nationen sollten die beiden strittigen Ostprovinzen unter Aufsicht einer akzeptierten internationalen Organisation einen Sonderstatus erhalten. Dann, nach einer ‚Abkühlphase’, würden unter Aufsicht dieser Organisation freie Wahlen abgehalten werden.

Beide Konfliktparteien mussten sich allerdings verpflichten, die Wahlergebnisse und deren Folgen strikt und ‚auf ewige Zeiten’ zu respektieren.

Eigentlich ein guter Plan.

Robustia hatte gute Gründe, zuzustimmen: Der Koloss konnte sich rühmen, seine Ziele erreicht zu haben, die von Eutopia angedrohten schmerzhaften Sanktionen blieben aus und alle Wirtschaftskontakte liefen auf bisherigem Niveau weiter. Nachdem man - später, nach der Zustimmung der Ukanier - vereinbart hatte, dass Ukanien sich zwar im Schutz des Militärbündnisses befinden würde, aber keine Fernwaffen oder Atomwaffen auf seinem Gebiet stationiert werden dürften, da gab es für Robustia keinen Grund mehr zur Verweigerung.

Pestilenzki dagegen lehnte rundweg sehr entrüstet ab.

Ein Stück von Ukanien als Futter für den Koloss von Robustia? Undenkbar! Er verlangte die vollständige Wiederherstellung des vorherigen ukanischen Gebiets, auch der Halbinsel, verlangte Wiedergutmachung, Gefangenenaustausch, Verurteilung aller Kriegsverbrecher etc. - Keinerlei Zugeständnisse!

Allerdings vergaß er dabei, dass gerade die strittigen Gebiete zum großen Teil von robustisch- stämmigen Menschen bewohnt wurden, die im übrigen Ukanien sehr unbeliebt waren. Und von der maroden Stahlindustrie dort war ohne horrende Investitionen nicht viel konkurrenzfähiges mehr zu erwarten. Ukanien war schlicht und vollständig pleite.

Erst als Eutopia große Summen anbot, um den - schon vor dem Einmarsch - desolaten Kernstaat auf ein akzeptables Niveau zu bringen, erst da bröckelte der Widerstand der ukanischen Abordnung.

Nicht aber der von Pestilenzki persönlich. Er zeterte so lange von ‚Rückeroberung’ und sein ‚niemals’, blockierte alles und jedes, bis zu guter letzt seine Karriere ein unrühmliches Ende fand: Drei seiner Berater setzten den Kriegsherrn Waldemar Pestilenzki wegen seines krassen Realitätsverlustes einfach ab.

Man erklärte sich zu einem ‚Triumvirat’, reaktivierte das Parlament und übernahm mit dessen Zustimmung vorerst die Geschäfte und die politische Verantwortung für Ukanien. 

Es sei allerdings angemerkt, dass man Pestilenzki und seinen Gefolgsleuten auch die Konsequenzen einer antieutopischen Entscheidung in bisher ungewohnt klaren Worten deutlich gemacht hatte: Keine finanziellen Zuwendungen mehr, keinerlei Waffen, Munition oder Kriegsgerät, kein Beitritt zu einer eutopischen Wirtschafts- oder  Militärallianz. Er würde sich dann mit Robustia in einem aussichtslosen Krieg befinden, den er seinem Volk zu erklären hatte.

Den Zeitaufwand für die Verhandlungen mag man sich vorstellen. Doch während der gesamten Zeit herrschte ein überwachter Waffenstillstand, der von den Soldaten zu beiden Seiten der Front gerne eingehalten wurde. Die Menschen in ihren Tarnanzügen wussten ohnehin kaum, wofür sie hier ihre Glieder hinhielten. Sie wollten einfach überleben, ihre Familien wieder sehen, ihrer Arbeit nachgehen. Jeder von ihnen hoffte auf einen echten Neubeginn.

Die Unterzeichnung des Friedensvertrags wurde gefeiert wie ein Volksfest und in Ukanien auf allen TV- Sendern übertragen.

Nur Waldemar Pestilenzki trat nicht mehr auf, nicht einmal als Komiker.

* * *

Ich stupste meinen Laubfrosch zart an. Er öffnete langsam seine runden Glotzaugen, eines nach dem anderen. Dann tapste er auf seiner Leiter wieder nach oben. „Na?“

„Fertig. Hier, lies mal!“, forderte ich ihn auf.

Während seine Augen aufmerksam über den letzten Textteil krochen, den er noch nicht kannte, hörte ich ihn immer wieder brummen, schnaufen, stöhnen. Ab und zu nickte er.

Als er zu Ende war glotzte er stumm zu mir herauf, etwas vorwurfsvoll. Schon wieder was verkehrt?

„Na los, sag was!“

Mein grüner Freund zog sein breites Mäulchen weit auseinander und grinste. „Fertig ist das Ding ja nun. Aber findest du den ganzen Kram am Schluss nicht ein bisschen zuuu märchenhaft? So was kriegt ihr doch nie auf die Reihe!“

Ist es ein Märchen oder nicht?“ fragte ich.

„Das schon, beinahe. Da fehlt noch was!“ Er grinste unverschämt.

„Was denn?“

„Eine Schlusszeile! Schreib’ drunter ‚und sie lebten glücklich bis an ihr Ende’. Dann ist alles okay, dann ist es wenigstens formal ein Märchen… vorwärts, schreib!“

* * *

Und so kam es, dass eine bitterböse Geschichte, in der es real um Leben und Tod ging, auf Wunsch eines Laubfroschs mit dem kindischen Satz aufhören musste:

‚Und sie lebten glücklich bis an ihr Ende.’

 

 ©2023 Hans-Peter Baumann